Gastbeitrag für https://mpa-community.ch/ vom 28. Mai 2020

Information ist nicht gleich Wissen und umgekehrt. Die neue Zürcher Zeitung beschrieb es so:

«Information und Wissen werden oft in einem Atemzug genannt. Aber: Information ist nicht Wissen!»

Das Wissen in einer Arztpraxis ist an die Ärzteschaft, an die Therapeuten und an die MPA gebunden. Mit jedem Praxisalltag, mit jeder Interaktion und mit jedem Feedback kann das Wissen der Praxis wachsen. Für das Lernen aus den Erfahrungen, aus Fallbeispielen und aus recherchierten Informationen braucht es allerdings einen strukturierten Transfer. Die Herausforderung besteht darin, gezielt Informationen und Wissen in den jeweiligen Kontext zu setzen.

Im Vordergrund stehen immer unsere Patienten und die ablaufoptimierte Gestaltung von Vorsorge-, Nachsorge- und Behandlungspfaden sowie die Bereitstellung notwendiger Kapazitäten und Medikamente. Dies setzt ein prozess- und qualitätsbewusstes Denken und Lernen des Praxisteams voraus. Eine Möglichkeit ist das Training «on-the-Job». Das bietet immer die besten Voraussetzungen, um sich Expertenwissen anzueignen.

Personalaustritt – was passiert mit dem Wissen?

Gerne möchte ich Ihnen ein Beispiel beschreiben, welches Sie vielleicht kennen:

Die leitende MPA Nadja ist seit über 5 Jahren im Team. Sie «schmeisst den Laden», kennt die Krankengeschichte der Patienten, kennt die Qualitätsanforderungen der Praxisapotheke und des
Praxislabors. Sie kennt die Sprechstundenabläufe, rechnet ab und bearbeitet alle Rückweisungen. Sie kümmert sich um die Anliegen und Bedürfnisse der Mitarbeitenden, Lernenden und der Patienten.

Ja, es läuft einfach! Und alle sind zufrieden. Allen voran der leitende Arzt (die Geschäftsführung).

Dann kündigt Nadja, sie hat Lust auf eine neue Herausforderung. Nadja hat 3 Monate Kündigungsfrist. Wenn sie jetzt noch Überzeit und Ferien bezieht, bleiben noch 8 Wochen bis zu ihrem Austritt.

Jetzt muss schnell eine neue, kompetente MPA rekrutiert werden. Sie sollte möglichst viel Erfahrung (Wissen) mitbringen. Die neue MPA hat 2 Monate Kündigungsfrist. Für die effektive Einarbeitung bleiben im besten Fall 2 Wochen.

Mögliches Szenario:

→ Nadja kann ihr praxisspezifisches Wissen, das sie in den letzten 5 Jahren aufgebaut hat, unmöglich in dieser kurzen Zeit an ihre Nachfolgerin weitergeben.

→ Nadja nimmt ihr Wissen mit! Wenn Nadja weg ist, sind auch wichtige und relevante Informationen zu den Abläufen im Praxisbetrieb weg.

→ Die neue MPA tritt die neue Stelle an. Vollgepackt mit den wichtigsten Informationen, den Handnotizen, den gesammelten Prozessen, welche vielleicht im «Praxishandbuch» irgendwo beschrieben sind. Aber die grösste Herausforderung für die neuen MPA ist die Erwartungshaltung der anderen Teamkollegen.

Kann sie Nadja das Wasser reichen? Kann die neue MPA den Erwartungen gerecht werden?

In vielen Fällen hat der Nachfolger schlechte Karten. Alle hängen noch an Nadja. Die Nadja war so gut, die wusste so viel, die hatte unsere Bedürfnisse gekannt. Währenddessen muss sich die Neue nicht nur mit neuen Praxisabläufen auseinandersetzten. Die meiste Energie muss in die Akzeptanzbemühungen investiert werden. In der Regel hat man während drei Monaten Zeit, sein Können und Wissen unter Beweis zu stellen. Es gilt nicht anzuecken, selbst wenn sinnlose Abläufe und Prozesse nahtlos übernommen werden müssen. Wird die «Bewährungszeit» nicht überstanden, muss die Praxis wieder bei null anfangen. Der finanzielle Schaden ist gross, das Team frustriert und im schlimmsten Fall ist das übertragene Wissen auch weg.

Ein weiterer Aspekt sind die Gewohnheiten. Lernen und kontinuierliche Verbesserung bedeutet liebgewonnenen Gewohnheiten bewusst zu werden, erkennen, wann sie zum Einsatz kommen und welchem Nutzen sie dienen (oder gedient haben). Aus dieser Erkenntnis heraus können wiederum Veränderungen oder Verbesserungen vorgenommen werden. Viele Abläufe in der Arztpraxis müssen akteurübergreifend entwickelt werden, um Effizienzsteigerungen zu erzielen. Aber Vorsicht, Effizienzsteigerung wird nicht durch die simple Automatisierung von Routinetätigkeiten erreicht. Vielmehr geht es darum der Ärzteschaft, den Therapeuten und den MPA einen Arbeitsplatz und eine Informationen- und Wissensstruktur zur Verfügung zu stellen, damit die Mitarbeitenden bestmögliche Entscheidungen für die Patienten und für die Praxis treffen können.

Praxishandbuch: ein digitales Nachschlagewerk

Ein wichtiges Instrument zur Sicherung von Wissen, praxisorientiertem Lernen und Informationen ist das Praxishandbuch. Alle praxisrelevanten Themen können in einem digitalen Nachschlagewerk für die Mitarbeitenden zugänglich gemacht werden. Die Mitarbeitenden können entsprechend an die Hand genommen und durch vorgegebene Prozesse und Leitlinien navigiert und auch unterstützt werden.

Beispiele für normative Prozesse in der Arztpraxis:

  • Qualitätssicherung der Praxisapotheke
  • Interne und externe Qualitätskontrollen im Praxislabor
  • Strahlenschutz und dosisintensives Röntgen
  • Diagnostik, Triage und Dokumentation
  • Tarifwesen und Abrechnung
  • Notfallmanagement
  • Datenschutz
  • Arbeitssicherheit
  • Personalmanagement

Die Ergänzung mit adaptiven Prozessen – Lernen aus Erfahrungen im Praxisalltag – sollte unbedingt in das Praxishandbuch aufgenommen werden. Auch hier werden Aktivitäten vorgegeben, jedoch mit der Option, adaptiv weitere Arbeitsschritte einbauen zu können.

Beispiele für adaptive Prozesse in der Arztpraxis:

  • Chronic Care
  • Mitarbeiter Aus-, Fort-, und Weiterbildung und Entwicklung
  • Beschwerdemanagement
  • Patientenservice
  • Praxisinfrastruktur

Adaptive Prozesse befinden sich in einem permanenten Zustand des Lernens und Weiterentwickelns, deshalb sollten die Mitarbeitenden die Möglichkeit haben, eigene Prozessschritte zu definieren. Dies hilft der Arztpraxis die Wissensbasis zu erweitern und damit nachhaltig einen Mehrwert zu generieren. Aktivitäten, Erfahrungen und Wissen können neuen Mitarbeitenden und Lernenden zugänglicher gemacht werden. Regulatorische Richtlinien der Praxis werden abgebildet und gleichzeitig dem Handbuchbenutzer ein Maß an Freiheit gewährt.

Praxismitarbeitende, in der Rolle als Anwender und Wissensarbeiter, werden in den Vordergrund gerückt. Es braucht nicht nur starre Prozesse und Leitlinien, sondern eine aktive Auseinandersetzung und ein gesundes Mass an Entscheidungsfreiheiten bei jedem einzelnen Mitarbeitenden, um das Wissen, im Sinne des Unternehmens, bestmöglich und ohne unnötige Schranken einsetzen zu können.

«Die grundlegende Ressource der Wirtschaft – das Produktionsmittel – ist nicht mehr Kapital, natürliche Rohstoffe oder Arbeit. Es ist Wissen. Und das wird es auch in der Zukunft sein.»  Zitat: Peter Drucker 1909 – 2005, Amerikanischer Unternehmensberater, geboren in Österreich

Zur Vereinfachung und leichteren Lesbarkeit wird im Text für die einzelnen Personenkategorien entweder nur die weibliche oder die männliche Form verwendet.